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Gesungene Geschichte

Eine selbst konzipierte Konzertreihe mit dem schlichten Titel "Das deutsche Lied" stand am Ende von Amalie Joachims Karriere – und bildete zugleich einen Höhepunkt. Ende des Jahres 1891 erklangen die Programme zum ersten Mal in der alten Berliner Philharmonie in der Bernburger Straße – einer ehemaligen Rollschuhbahn.

Alte Berliner Philharmonie. Digitale Rekonstruktion:     Michael Tillman          

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Für Sängerinnen und Sänger war es im früheren 19. Jahrhundert eigentlich üblich, auch in Konzerten Opernarien zu singen. Kunstlieder (wie etwa Schuberts und Schumanns heute berühmte Liederzyklen) kamen erst nach der Jahrhundertmitte und auch dort eher zögerlich aufs Konzertpodium, da es auch für die Profis normal war, regelmäßig zu Auftritten in privaten Räumlichkeiten eingeladen zu werden  – hier und nicht im großen Konzertsaal sah man den angemessenen Aufführungsort für Lieder und Kammermusik.

Heinrich Reimann | Wikimedia commons

Volkslieder oder bewusst volksliedhaft komponierte Lieder standen dem  Konzertpodium noch ferner. Ausgerechnet mit solchem Repertoire eine Art künstlerisches Markenzeichen zu kreieren, war damals für eine Sängerin eine ungewöhnliche Strategie, schon weil diese Musik kaum Gelegenheit bietet, frappierende virtuose Fähigkeiten oder ,money notes' wie hohe gehaltene Töne zur Schau zu stellen. Es kam ganz auf die persönliche Gestaltungskraft an. Amalie Joachims Experiment gelang – gerade diese Konzertreihe wurde mit ihrem Namen zu ihren Lebzeiten und auch nach ihrem Tod besonders stark verbunden. Amalie Joachims Partner bei der Ausgestaltung der Reihe war der Musikwissenschaftler, Organist und Pianist Heinrich Reimann, der  sie neben verschiedenen anderen Pianisten wie José Vianna da Motta oder Hans Schmidt auch bei Aufführungen am Klavier begleitete. In seinen Erinnerungen berichtet Reimann später ausführlich über seine Zusammenarbeit mit Amalie Joachim. 

Auf dieser Grundlage ergaben sich verschiedene Variationen der Konzertprogramme. Amalie sang immer wieder unterschiedliche Kombinationen, arrangierte um, tauschte einzelne Lieder aus, zog die Reihe manchmal zu drei Konzerten zusammen. Grundlage bleib aber die von Reimann und ihr zusammengestellte Sammlung aus der damaligen Berliner Königlichen Bibliothek. Begleitend zu den Konzerten verfasste Reimann ein Programmheft mit allen Texten und Erläuterungen zu den einzelnen Liedern. 1892 erschien im Berliner Simrock-Verlag außerdem eine Notenausgabe, die es ermöglichen sollte, die von Amalie Joachim öffentlich gesungenen Lieder auch zu Hause nachmusizieren zu können. In späteren Aushaben verschwand Amalie Joachims Name aus dem Titel und wurde nur noch im Vorwort erwähnt.

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Die verschiedenen Abende hatten je eigene Themen, die gleichwohl immer verschiedene Epochen der Musikgeschichte durchliefen, um so möglichst abwechslungsreich zu bleiben. Der erste Abend war volkstümlichen Liedern gewidmet, bei denen die Grenzen zwischen mündlich weitergegebenen und aufgeschriebenen Worten und Melodien letztlich verwischen. Eine Besonderheit der Programme  bestand darin, dass mit den Volksliedern auch die Hörperspektive der damaligen Zeit auf die alten Melodien übermittelt ist – denn Reimann bearbeitete extra sie extra für diese Konzertreihe neu. 

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Im zweiten Abend stellte Amalie Joachim größere, kunstvollere Gesangsstücke in den Vordergrund, die historisch gesehen anderen Kontexten entstammten als Volkslieder: zum Beispiel geistliche Gesänge oder bürgerliche und höfische Unterhaltungsmusik der Barock- und Rokokozeit. Gewissermaßen auf einem eigenen Planeten thronte nach der damals typischen Auffassung Ludwig van Beethoven mit seinem Liederzyklus An die ferne Geliebte: Dieses Stück wurde mit seinen auskomponierten Überleitungspassagen längst als großes Kunstwerk angesehen, weit entfernt vom ursprünglich alltags- und gebrauchsmäßigen Musizieren. Dass Amalie Joachim Beethovens an ein weibliches lyrisches Du gerichteten Liederzyklus als Frau sang, mag heute verwundern, war für die damalige Zuhörerschaft aber grundsätzlich nicht problematisch – im Konzertsaal nahm man  Singstimmen nicht so geschlechtsspezifisch wahr wie in der Oper, sondern hörte sie eher als neutral gedachtes Lautwerden einer aus den Gedichten sprechenden inneren Stimme. 

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Der dritte Abend widmete sich zwei verschiedenen Themen: dem für die damalige Sicht auf die Liedgeschichte zentralen Wendepunkt Franz Schubert und dem das Volkslied mit der Literaturgeschichte verbindenen Bereich der Ballade und Romanze – also gesungenen und musikalisch bereicherten Geschichten. Der letzte Abend schließlich sollte nochmals einen subjektiv zusammengestellten Überblick über die verschiedenen Erscheinungsformen des deutschen Liedes seit dem frühen 19.Jahrhundert bis in Amalie Joachims Gegenwart bieten. Dass sie immer Kompositionen von Johannes Brahms an den Schluss setzte, mag vor allem mit der persönlichen Verbundendeit der beiden zu tun haben. Aber auch die damals als Gegenpol zu Brahms aufgefassten Kompositionen von Franz Liszt und Richard Wagner finden ihren Platz in Amalie Joachims Programmen.

Im Anschluss an die Premiere in der Berliner Philharmonie präsentierte Amalie Joachim ihre Konzertreihe zunächst unter großem Beifall im alten Leipziger Gewandhaus. Im Februar 1893 sang sie die Programme erstmals im Großen Saal des Wiener Musikvereins. 

Programm_1893-02-03-07-11, GS_Amalie Joachim.jpg

© Archiv Gesellschaft der Musikfreunde Wien

© Archiv Gesellschaft der Musikfreunde Wien

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